Röntgenbild-Polytrauma
Bild: Röntgenaufnahme
eines Polytraumas

Definition Polytrauma:

Als Polytrauma bezeichnet man gleichzeitige Verletzung verschiedener Körperregionen oder Organsysteme, wobei die Kombination oder eine einzelne Verletzung lebensbedrohlich ist. Anders beim Mehrfachverletzten, bei dem es an verschiedenen Körperregionen Verletzungen gibt, bei denen aber nicht die Gefahr einer vitalen Einschränkung besteht. In der Präklinischen Notfallmedizin hat dies aber keine wichtige Bedeutung.

Ursachen Polytrauma:

  • Verkehrsunfall (ca. 80%)
  • Arbeitsunfall, z.B. in Maschine eingeklemmt (ca. 10%)
  • häusliche Unfälle (ca. 4%)
  • Suizid und Tötung (ca. 4%)
  • Sportunfall, z.B. Sturz aus großer Höhe (ca. 3%)

Verletzungsmuster polytraumatisierter Patienten nach Tscherne und Sturm:

  • 75% Extremitätentrauma
  • 70% SHT, wovon 9% gleichzeitig eine HWS-Beteiligung aufweisen
  • 37% Abdominaltrauma
  • 30% Thoraxtrauma
  • 14% Wirbelsäulentrauma

Probleme oder Umstände, die die Polytraumaversorgung erschweren:

  • Keine ausreichenden Informationen über Unfallhergang und Verletzungsmuster
  • „Innere” Verletzungen, die leicht übersehen werden können
  • Seltener Einsatzgrund
  • Große Vielfalt an Aufgaben und Zeitdruck
  • Häufig sind bei Polytraumata mehrere Verletzte

Symptome bei einem Polytrauma:

  • Kaltschweißigkeit, Unruhe
  • Tachykardie, Hypotonie
  • Dyspnoe
  • Starke Schmerzen
  • Bewusstseinsstörungen bis Bewusstlosigkeit

Maßnahmen bei polytraumatisierten Patienten:

1. Überblick verschaffen

  • Schnell Überblick über die Situation verschaffen (wie viele Verletzte, wie schwer sind die Verletzungen)
  • ggf. Unfallstelle sichern
  • Bei mehreren Verletzten rechtzeitig weitere Rettungskräfte nachfordern
  • Kurze Sichtung aller potentiellen Patienten (Ansprechbar?, Puls, Atmung?, Eingeklemmt?)

2. Erstdiagnostik

Eine erste präzise Untersuchung (Bewusstsein, Atmung, Kreislaufparameter) sollte Klarheit darüber bringen, ob eine vitale Gefährdung besteht. Sollte dies der Fall sein, wird natürlich gleich mit den lebensrettenden Sofortmaßnahmen begonnen. Ansonsten starten die so genannten Basismaßnahmen, die jeder Traumapatient erhält. Dazu zählen: Die Anlage von 2-3 großlumige Venenzugängen, auch bei unauffälliger Atmung ist eine Sauerstoffgabe indiziert, außerdem Infusions-Volumentherapie.

3. differenzierte Befunderhebung

An dieser Stelle folgt die genauere klinische Untersuchung, nachdem die Vitalfunktionen geprüft sind und der Patient stabil ist. Ziel ist die wichtigsten Verletzungen zu verifizieren und entsprechende Maßnahmen in die Wege zu leiten. Nun sollte von Kopf bis Fuß eine strukturierte Untersuchung erfolgen und die apparative Diagnostik die dem Rettungsdienst zur Verfügung steht (EGK, RR, SpO2, BZ).

4. differenzierte Notfallmaßnahmen

In dieser Phase werden notwendige Maßnahmen (z.B. Blutstillung, Stifneck, Schocktherapie, Thoraxdrainage oder Intubation) durchgeführt.
Es ist sehr wichtig die schwersten Einzelverletzungen zu erkennen und primär zu behandeln. Abhängig vom Zustand des Patienten muss man vorrangig auf die Sicherung und Stabilisierung achten (ausreichende Volumentherapie, Intubation und ausreichende Beatmung). Weiterhin wichtig ist die Immobilisation der Wirbelsäule und ein schneller Transport zu Klinik.

5. Transport

Bei Polytraumata ist es je nach Entfernung der Zielklinik oft sinnvoll einen Rettungshubschrauber nach zu fordern. Wichtig ist, die Zielklinik über Ankunftszeit, schwere der Verletzungen, ergriffene Maßnahmen und evtl. sofort notwendige Bluttransfusionen zu informieren.

Praktisches Vorgehen

Volumen- und Schocktherapie

Für eine ausreichende Volumentherapie sind 2-3 großlumige Venenzugänge zu legen. Da es bei einem Volumenmangelschock zu einer Kreislaufzentralisation mit Vasokostriktion der Peripherie kommen kann ist es wichtig, diese recht früh zu etablieren, da es sonst fast unmöglich sein kann.

Grundsätzlich stehen im Rettungsdienst drei Arten von Volumenersatzmitteln zur Verfügung. Es handelt sich hierbei um Kristalloide, Kolloide und um hypertone-hyperonkotische Lösungen. Kristalloide haben kein allergisches Potential und außer dem Verdünnungseffekt auch keinen Einfluss auf die Blutgerinnung. Sie müssen im Verhältnis 3-4 zu 1 infundiert werden, dass heißt, es wird die 3-4- fache Menge des verloren gegangenen Volumens benötigt. Der Volumeneffekt hält nur kurz an.

Kolloide sind schneller in der Lage einen Volumenmangel zu beheben. Sie haben je nach Präparat einen Effekt zwischen 0,5 und 1,5. Bei großen Mengen ist eine Beeinflussung des Gerinnungssystems zu erwarten, außerdem kann es in seltenen Fällen zu allergischen Reaktionen kommen.

Bei den hypertonen-hyperonkotischen Lösungen (small-volume-rescuscitation) handelt es sich um ein Gemisch aus hypertoner Kochsalzlösung und einem Kolloid. Ihr Effekt beruht auf ihrem ausgeprägten Wasserbindungsvermögen, in dem sie Wasser aus dem Gewebe in das Gefäßsystem ziehen. Dadurch überschreitet ihr Volumeneffekt deutlich die infundierte Menge. Der Nachteil hiervon ist, dass es durch den hohen Natriumanteil zu einer Hypernatriämie kommen kann und sie die Venenwand reizen, weshalb sie beim wachen Patienten deutliche Schmerzen hervorrufen.

Kleine Blutungen können ausschließlich mit Kristalloiden ersetzt werden. Sind bereits Zeichen eines deutlichen Volumenmangels vorhanden, erscheint eine Kombination von Kristalloiden und Kolloiden im Verhältnis 2-3 (Kristalloide) zu 1 (Kolloide) sinnvoll. Bei einem ausgeprägtem Volumenmangelschock sollten Initial 125-150 ml einer hypertonen-hyperonktotischen Lösung in 2-3 Min. infundiert werden und anschließend sofort die Volumentherapie mit Kristalloiden/Kolloiden weitergeführt werden. Die zu infundierende Menge kann erheblich sein. Eine aggressive Volumentherapie scheint in jedem Fall gerechtfertigt und wird sich häufig im Bereich von mehreren Litern bewegen.

Sicherung der Atemwege

Bei einem Polytrauma sollte die Indikation zur Intubation großzügig gestellt werden. In der Versorgung von Schwerverletzten sind dadurch zwei verschiedene Therapieansätze möglich. Als erstes werden die Atemwege gesichert und eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff gewährleistet. Da die bei einer Intubation zu Verfügung stehenden Analgetika eine potente Atemdepression besitzen, ist dadurch auch eine ausreichende Schmerztherapie gegeben. Um einen Blutdruckabfall unter Narkose zu vermeiden, sollte vor der Intubation mit der Volumentherapie begonnen werden. Im allgemeinen kann dies nach geordneter Rettung und klinischer Untersuchung erfolgen.

Management von Einzelverletzungen

Die Behandlungspriorität sollte der für das Überleben des Patienten gefährlichsten Einzelverletzung zu kommen.

Jedes Polytrauma wird zuerst auf einer Vakuummatraze gelagert und erhält ein Stifneck, da zu Anfang immer davon ausgegangen werden muss, dass eine Wirbelsäulen-Verletzung vorliegt. Unter ausreichender Schmerztherapie werden Extremitätenfrakturen grob reponiert und dann durch die Vakuummatraze oder eine Schiene fixiert.

Mit Druckverbänden werden äußere Blutungen entsprechend versorgt. Eine Thoraxdrainage ist indiziert, wenn ein Hämato- oder Pneumothorax besteht. Besonderes Augenmerk ist auf ein SHT zu legen, da es die Prognose des Patienten weiter verschlechtert. Polytraumatisierte mit einem mittelschweren SHT (GCS 9-12) und einem schweren SHT (GCS 3-8) sollten immer intubiert und kontrolliert Beatmet werden. Um das Gehirn vor weiteren Schäden und Stress zu schützen, sollte man bei diesen Patienten auf eine kontinuierliche und tiefe Analgosedierung achten.

Stay and play oder load and go

Zurzeit kann nicht definitiv beurteilt werden, ob eine vorgezogene Intensivbehandlung (stay and play) am Unfallort dem Einladen und losfahren (load and go) überlegen ist. Nur wenn es gelingt, durch Maßnahmen der Blutstillung und einen gezielten Volumenersatz das progrediente Volumendefizit zu beseitigen, kann durch eine vorgezogene Intnesivtherapie tatsächlich eine Verbesserung des outcomes für den Patienten erwartet werden.

Reanimation beim Polytrauma

Alle Schwerverletzten, die primär am Unfallort reanimationsbedürftig werden und kein Verletzungsmuster haben, welches mit dem Leben nicht vereinbar ist, sollten nach den advanced cardiac life support und advanced trauma life support behandelt und bei erfolgreicher Reanimation umgehend einem Traumazentrum zugeführt werden. Selbst bei Ausschöpfung aller dem Rettungsdienst zur Verfügung stehenden Therapieoptionen ist die Überlebensquote von Patienten mit Polytrauma, bei denen eine Reanimation erforderlich war, gering. Dennoch darf auf die Reanimation von Schwerverletzten im Rettungsdienst nicht grundsätzlich verzichtet werden.
Quellen:
Taschenatlas Rettungsdienst
Algorithmen im Rettungsdienst
Dr. P. Hilbert
Bild: www.chirurgieinfo.com
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